• Was mache ich hier? Wie soll mein armer Körper diesen Lauf überstehen? Und wer außer mir denkt jetzt, kurz vor dem Start des Berlin-Marathon, an die kommenden Strapazen? Um mich herum ist eine riesige Menge von Volksläufern versammelt, die sich auf das Rennen vorbereiten. Da gibt es die eigenartigsten Typen. Kostüme und Verkleidungen aller Art werden angezogen, ich sehe Monster, Polizisten mit Pickelhauben, mindestens drei Freiheitsstatuen, Elche und massenweise Wikinger. Dazu Filmstars, Fernsehhelden und Figuren der Geschichte. Paare im Partnerlook liegen sich vorher noch mal in den Armen, und manche Läufer schnallensich ihre Weltanschauung als Plakat vor den Körper, das sie über die gesamte Strecke mit sich schleppen wollen. Man schmiert sich ein mit diversen Cremes - möglichst selbst gemixt aus den seltsamsten Zutaten. Einige packen sich die Taschen mit allerlei geheimnisvollen Mittelchen voll oder tragen einen Gürtel mit Getränken, die sie sich zu Hause zusammengebraut hatten.Verrückt unter Verrückten, und ich gehöre dazu! Dieses Gefühl befällt mich ganz abrupt, und komisch - es macht mir gar nichts aus. Also bereite ich mich für das Warmmachen an der Animationsbühne vor. Mit Mühe finde ich noch einen Platz, wo ich einigermaßen Arm- und Beinfreiheit habe. Und schon setzt die Musik ein. Ein bekannter Animateur, der selbst mal Läufer war, reißt gleich die Massen mit und schmettert rhythmisch seine Sprüche in die Runde: "Bein vor, Bein zurück - und Hopp!"
    Mein rechtes Knie macht mir wieder Schwierigkeiten. Wenn mir hier schon die Knochen wehtun, was soll dann erst beim Laufen werden? Und plötzlich fallen mir wieder alle Wehwehchen ein, die ich in der Vorbereitung zu diesem - meinem ersten - Marathonlauf durchgemacht habe. Kreuz- und Rückenschmerzen, Oberschenkelprobleme, die Achillessehnen haben gemault und natürlich mein Knie, immer wieder das Knie. Dazu kam noch die Angst, dass meine übrigen Knochen und Gelenke, die Muskeln und der Kreislauf nicht durchhalten könnten. Aber mein Ehrgeiz und mein brennender Wunsch, an diesem Lauf teilzunehmen, hatten mich immer wieder vorangetrieben.
    Später am Start stehe ich mit vielen anderen Läufern gedrängt im dritten Startblock. Viele ausländische Gastläufer sind dabei. Besonders zahlreich vertreten, wie in jedem Jahr, sind die Dänen, die nach den Deutschen die größte Nationengruppe bilden. Beruhigt stelle ich fest: Nicht nur ich bin hibbelig. Alle scheinen nervös zu sein. Sie prüfen zum hundertsten Mal, ob auch alles sitzt. Jeder ist mit seinen Gedanken bei sich und versucht sich zu konzentrieren. Einige versuchen sich durch Gespräche abzulenken, andere sind tief versunken und denken an den Lauf, ja gehen ihn im Geiste durch. Ich schrecke auf vom Klatschen und Gebrüll der Läufer. Lange Hosen, Pullis und Trainingsjacken werden abgelegt, auch die zugeschnittenen Plastikbeutel, die die Läufer bis hierher warm gehalten haben. Alles wird dem Nebenstehenden zum Weiterreichen in die Hand gedrückt. Am Rande der Startstrecke kommen so allerlei Sachen zusammen, die das Deutsche Rote Kreuz zur Weiterverwendung einsammeln wird. Unmengen von Luftballons steigen schnell zum Himmel. Sie schweben den Wolken entgegen und scheinen das Firmament bald auszufüllen. Ein wunderschöner Anblick. Um mich herum wird applaudiert. Hubschrauber umkreisen das Läuferfeld, und die Kameramänner darin filmen uns. Diese Bilder erscheinen nun in vielen Ländern der Erde. Ein Glücksgefühl durchzuckt mich. Bis hierher habe ich es geschafft. Ich möchte es auch noch weiter schaffen.
    Irgendwie habe ich es immer gepackt.
    Mein Gott, ich darf dabei sein ...
    Aber etwas ganz anderes geht mir nun durch den Kopf. Meine Gedanken wandern zu meiner Familie. Und zu meinem Bruder, für den ich heute laufen will. Ich schaue zum Himmel empor, verfolge den Flug der unzähligen Luftballons und beginne mich zu erinnern.